EuGH-Urteil: Pilotenstreik kein „außergewöhnlicher Umstand“
Mit Urteil vom 23. März 2021 (C-28/20) hat der EuGH entschieden, dass Streikmaßnahmen nicht unter den Begriff „außergewöhnlicher Umstand“ fallen,

  • die aufgrund eines Streikaufrufs einer Gewerkschaft durch Beschäftigte eines ausführenden Luftfahrtunternehmens eingeleitet wurden,
  • bei denen die für die Vorankündigung vorgesehene Frist beachtet werden,
  • mit denen die Forderungen der Beschäftigten dieses Unternehmens durchgesetzt werden sollen und
  • denen sich eine oder mehrere der für die Durchführung eines Fluges erforderlichen Be-schäftigtengruppen anschließen.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Wegen der Annullierung seines Fluges von Malmö nach Stockholm machte ein Fluggast gemäß Art. 5, 7 Abs. 1 Europäische Fluggastrechte-VO (Nr. 261/2004) bei dem ausführenden schwedischen Luftfahrtunternehmen SAS die pauschale Ausgleichszahlung in Höhe von 250,00 € geltend. Der Flug hätte planmäßig am 29.4.2019 stattfinden sollen, wurde aber wegen eines im Zuge von Tarifverhandlungen von den Pilotengewerkschaften am 26.4.2019 ausgerufenen Pilotenstreiks in Dänemark, Schweden und Norwegen seitens der Fluggesellschaft annulliert. Während des siebentägigen Streiks annullierte SAS über 4.000 Flüge, betroffen waren ca. 380.000 Passagiere.
SAS verweigerte die Ausgleichszahlung mit der Begründung, dass der Streik einen außergewöhnlichen Umstand darstelle, der sie von einer Entschädigungspflicht befreie.
Das vom Unternehmen Airhelp, dem der Passagier seine Rechte abgetreten hat, angerufene schwedische Gericht ersuchte den Gerichtshof um Auslegung der Verordnung. Es wollte wissen, ob ein Streik, der von Arbeitnehmerorganisationen angekündigt und rechtmäßig eingeleitet wurde, einen außergewöhnlichen Umstand darstelle. Nach den vom Generalanwalt vorgelegten Schlussanträgen soll ein solcher Streik einen außergewöhnlichen Umstand darstellen.

Entscheidung
Der EuGH hat entgegen den Schlussanträgen des Generalanwalts entschieden, dass sich die Fluggesellschaft vorliegend nicht auf außergewöhnliche Umstände berufen könne.
Nach Ansicht des Gerichtshofs handelt es sich bei einem Streik, der auf eine Gehaltserhöhung für die Piloten, eine Änderung ihrer Arbeitszeiten sowie eine bessere Planbarkeit der Arbeitszeit abstellte, um ein Vorkommnis, das Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit dieses Unternehmens ist. Dies gilt insbesondere, wenn ein solcher Streik unter Beachtung der gesetzlichen Anforderungen organisiert wird.

Außerdem sei der Streik für das Luftfahrtunternehmen beherrschbar gewesen: Dass sich Arbeitnehmer auf ihr in Art. 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgtes Streikrecht berufen und Streikmaßnahmen auslösen, stellt eine für jeden Arbeitgeber vorhersehbare Tatsache dar, insbesondere wenn ein solcher Streik angekündigt wurde. Aufgrund dieser Vorhersehbarkeit verfügt ein Arbeitgeber grundsätzlich über die Mittel, sich darauf vorzubereiten und somit die Folgen gegebenenfalls abzufangen, so dass die Ereignisse für ihn zu einem gewissen Grad beherrschbar bleiben.

Zudem müssen bei „unvorhersehbaren, außergewöhnlichen Umständen“ externe Ereignisse vorliegen. Solche können insbesondere bei Streikmaßnahmen von Fluglotsen oder des Flughafenpersonals vorliegen (vgl. EuGH, Urt. vom 4.11.2012, Finnair, C-22/11), nicht jedoch bei einem von den eigenen Beschäftigten des betroffenen Luftfahrtunternehmens ausgelösten und befolgten Streiks, der ein rein „internes“ Ereignis darstellt. Hingegen kann es sich bei einem Streik, dem Forderungen zugrunde liegen, die nur von staatlichen Stellen erfüllt werden können und die daher für das betroffene Luftfahrtunternehmen nicht tatsächlich beherrschbar sind, um einen „außergewöhnlichen Umstand“ handeln.

Der EuGH führt weiter aus, dass auch nicht angenommen werden könne, dass dem Luftfahrtunternehmen seine unionsrechtlich geschützte Koalitionsfreiheit genommen werde. Denn auch bei einer Verpflichtung zur Leistung der Ausgleichszahlung sei das Unternehmen nicht gezwungen, allen Forderungen der Streikenden zuzustimmen, sondern könne die betrieblichen Interessen so vertreten, dass ein alle Sozialpartner annehmbarer Kompromiss erreicht werden kann.

Fazit
Wie bereits bei seiner Entscheidung zum „wilden Streik“ (vgl. VA-Mitteilung Nr. 32/2018) schließt sich der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwalts überraschenderweise nicht an.

Er bleibt bei der aktuellen Entscheidung seinen bisherigen Erwägungsmaßstäben treu, betont die Erforderlichkeit einer engen Auslegung des Begriffs der außergewöhnlichen Umstände und legt erneut die Sicherstellung eines hohen Schutzniveaus für Fluggäste als oberstes Ziel fest. Aus Verbrauchersicht ist die Entscheidung daher begrüßenswert.

Es zeigt sich, dass bei der Beurteilung des Vorliegens außergewöhnlicher Umstände bei Flugstörungen aufgrund eines Streiks auch künftig genau geprüft werden muss, ob es sich um interne oder externe Vorgänge handelt. Eine Klärung wird hierbei häufig nur über das Luftfahrtunternehmen selbst erfolgen können.

Gerne beraten wir Sie zu diesen und anderen Fragen des Reiserechts an unseren Standorten in Osnabrück, Bremen und Sulingen. Sprechen Sie uns gerne an!

Kim Mirow

Kim Mirow

Rechtsanwältin