OLG Celle: Urteil muss auch bei Geschwindigkeitsüberschreitung um 40% erkennen lassen, weshalb das Gericht von vorsätzlichem Geschwindigkeitsverstoß ausgeht

Oberlandesgericht Celle, 322 SsBs 2/13 (406 Js 27090/11 StA Verden)

Beschluss

In der Bußgeldsache

gegen

– Verteidiger: Rechtsanwalt Witte, Sulingen –

wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit

hat der 2. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Celle auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Syke vom 9. Oktober 2012 auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft durch den Richter am Oberlandesgericht B am 5. April 2013 beschlossen:

Das angefochtene Urteil wird hinsichtlich der Feststellungen zur subjektiven Tatseite sowie im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Im Übrigen wird die Rechtsbeschwerde als unbegründet verworfen (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 349 Abs. 2 StPO).

Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Syke zurückverwiesen.

 

Gründe:

Das Amtsgericht hatte den Betroffenen mit Urteil vom 22.11.2011 wegen fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung innerhalb geschlossener Ortschaften zu einer Geldbuße von 280 € verurteilt und gegen ihn ein Fahrverbot von zwei Monaten verhängt. Der Senat hatte mit Beschluss vom 13.03.2012 dieses Urteil auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hin aufgehoben, weil das der sachlich-rechtlichen Nachprüfung unterliegende Urteil keine Gründe enthielt. Nunmehr verurteilte das Amtsgericht Syke den Betroffenen mit dem angefochtenen Urteil wegen vorsätzlicher Geschwindigkeitsüberschreitung innerhalb geschlossener Ortschaften zu einer Geldbuße von 560 € und ordnete ein Fahrverbot von zwei Monaten an. Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, mit der er die Verletzung materiellen und formellen Rechtes rügt.

Die Rechtsbeschwerde hat teilweise Erfolg.

1. Der Schuldspruch hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Zwar geht das Amtsgericht im Ansatz zutreffend mit der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass bei Überschreitungen der zulässigen Geschwindigkeit von mehr als 40 bzw. 50 % ein vorsätzliches Verhalten des Betroffenen naheliegen kann, weil aufgrund der gänzlich abweichenden Umwelteindrücke und des Fahrgeräusches dem Betroffenen die Höhe der von ihm gefahrenen Geschwindigkeit bewusst war. Das Urteil muss jedoch auch erkennen lassen, weshalb das Amtsgericht davon überzeugt ist, dass der Betroffene auch die Geschwindigkeitsbegrenzung wahrgenommen hatte. Hierzu enthält das angefochtene Urteil indes keinerlei Feststellungen. Die Mitteilung allein, die Messung habe auf der B 51 in Höhe Kilometer 100,5 in Stuhr-Fahrenhorst in Fahrtrichtung Bremen stattgefunden, genügt hierfür nicht, denn zur Tatörtlichkeit als solcher wird nichts mitgeteilt. Dies zwingt zur Aufhebung des Urteils im Schuldspruch mit den Feststellungen zur subjektiven Tatseite. Die Feststellungen zur objektiven Tatseite können bestehen bleiben, denn sie sind rechtsfehlerfrei getroffen worden, insbesondere greifen die erhobenen Verfahrensrügen nicht durch. Die Generalstaatsanwaltschaft hat ausgeführt:

„Die Rüge, der Befangenheitsantrag des Betroffenen gegen den Sachverständigen sei zu Unrecht abgelehnt worden (§ 74 StPO), ist unbegründet. Das Revisionsgericht hat insoweit nur nach revisionsrechtlichen Grundsätzen die Rechtsfrage zu prüfen, ob das Amtsgericht über das Ablehnungsgesuch ohne Verfahrensfehler und mit ausreichender Begründung entschieden hat. Anders als bei der Richterablehnung prüft das Revisionsgericht hingegen nicht selbständig, ob die Voraussetzungen für die Ablehnung des Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit im konkreten Fall vorliegen (BGH NStZ 1994, 388; 1999, 632, 633; 2008, 229). Es ist zudem an die vom Tatrichter festgestellten Tatsachen gebunden und darf keine eigenen Feststellungen treffen (BGH NStZ 1994, 388). Unter Anwendung dieser Grundsätze ist der Zurückweisungsbeschluss des Amtsgerichts nicht zu beanstanden. Die Begründung des Amtsgerichts, die Mitwirkung des Sachverständigens im ersten Hauptverhandlungstermin begründe nicht dessen Voreingenommenheit, ist frei von Rechtsfehlern. Soweit der Beschwerdeführer im Weiteren die Voreingenommenheit des Sachverständigen dadurch zu begründen sucht, dass dieser im Verlauf der Hauptverhandlung die Anfertigung eines weiteren Lichtbildes initiiert und so Einfluss auf die richterliche Urteilsfindung genommen habe, ist bereits nicht ersichtlich, dass der Beschwerdeführer den Sachverständigen aus diesem Grund in der Hauptverhandlung abgelehnt hätte.

Soweit der Beschwerdeführer die Anfertigung und Verwertung insbesondere des zweiten Vergleichsfotos rügt, teilt er bereits den genauen Inhalt des erstatteten Gutachtens und des Lichtbildes nicht mit: Der Senat kann so die Beweisrelevanz des Fotos nicht abschätzen. Die Anfertigung eines Lichtbildes zur Vorbereitung eines Gutachtens wird im Übrigen durch § 80 Abs. 2 StPO nicht ausgeschlossen. Eine Revision oder Rechtsbeschwerde kann hierauf nicht gestützt werden.

Die weitergehende Sachrüge ist im Hinblick auf die Identifizierung des Betroffenen als Fahrer (und die Feststellung einer objektiven Geschwindig-keitsüberschreitung) unbegründet.

Es kann dahin stehen, ob das angefochtene Urteil an einem Darstellungsmangel leidet, weil es bei der Darstellung des Sachverständigengutachtens nicht mitteilt, aufgrund welchen biostatischen Vergleichsmaterials der Sachverständige zu seiner Bewertung der Identitätswahrscheinlichkeit gelangt ist.

Jedenfalls würde das Urteil nicht auf einem solchen Darstellungsmangel beruhen.

Vielmehr ergibt sich aus den Urteilsgründen, dass das Amtsgericht in Ansehung der Messfotos und der Erscheinungsform des Betroffenen in der Hauptverhandlung auch selbst zu der Erkenntnis gelangt ist, dass zahlreiche beschriebene Einzelmerkmale übereinstimmen. Der Tatrichter ist da-nach nicht lediglich aufgrund der überlegenen Sachkunde des Sachver-ständigen zu der Überzeugung von der Identität des Betroffenen mit der auf dem Messfoto erkennbaren Person gelangt, sondern unmittelbar („bereits danach“) aufgrund der Inaugenscheinnahme der Fotos. Der Beschwerdeführer weist insoweit zutreffend darauf hin, dass es der Einholung eines Sachverständigengutachtens angesichts der Qualität der Messbilder gar nicht bedurft hätte.

Danach hält sich die Darstellung von der Überzeugungsbildung zum Betroffenen als Fahrer innerhalb der hierzu entwickelten obergerichtlichen Anforderungen. Die Messbilder sind ausreichend durch Verweis nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO zum Gegenstand der Urteilsfeststellungen geworden. Das geringe Defizit der Fotos (teilweise der Stirn) wird benannt, es werden gleichwohl viele individuelle Einzelmerkmale dargestellt, die dem Tatrichter die Identifikation ermöglicht haben (zum Ganzen z.B. BGH St 41, 376; OLG Dresden zfs 2008, 707).

Das Ergebnis der Überzeugungsbildung ist als tatrichterliche Beweiswürdigung vom Rechtsbeschwerdegericht hinzunehmen.“

Dem tritt der Senat bei und verwirft daher die weitergehende Rechtsbeschwerde gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet. Der neue Tatrichter ist nicht gehindert, ergänzende Feststellungen zur objektiven Tatseite zu treffen, solange diese den nunmehr in Rechtskraft erwachsenen Feststellungen nicht widersprechen. Es werden zudem ergänzende Feststellungen zur subjektiven Tatseite zu treffen sein, wobei – die Möglichkeit entsprechender Feststellungen vorausgesetzt – das Verschlechterungsverbot aus § 358 Abs. 2 StPO einer Änderung des Schuldspruches nicht entgegensteht (vgl. Göhler, OWiG, 16. Aufl., § 79 Rdnr. 37).

2. Auch der Rechtsfolgenausspruch hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Amtsgericht hat, indem es den Betroffenen zunächst wegen einer fahrlässig begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 280 € und nach erfolgter Aufhebung und Zurückverweisung nunmehr zu einer Geldbuße von 560 € verurteilt, gegen das auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren geltende Verschlechterungsverbot aus § 358 Abs. 2 StPO verstoßen. Zudem fehlt es an Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen, welche nach der ständigen Rechtsprechung der hiesigen Bußgeldsenate erforderlich sind, wenn eine Geldbuße von mehr als 250 € verhängt wird.

Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung im Umfange der Aufhebung an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Für die neue Hauptverhandlung merkt der Senat an, dass aufgrund des inzwischen eingetretenen Zeitablaufs (Tatzeit war der 25.02.2011) zu prüfen sein wird, ob es der Verhängung eines Fahrverbotes von zwei Monaten noch bedarf.

Volltext: Urteil des OLG Celle vom 05.04.2013 (322 SsBs 2/13)