ArbG Nienburg/Weser: Kündigung ohne detaillierte Darlegung der Gründe ggü. Betriebsrat ist unwirksam

ARBEITSGERICHT NIENBURG 1 Ca 34/10

(…)

I. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegenüber einem Arbeitnehmer, der – wie die Klägerin – angesichts der Dauer der Betriebszugehörigkeit und der Größe des Betriebes den Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz genießt, ist rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist, § 1 Abs. 1 KSchG.

1.

Da der Beklagte einen Betriebsratsbezirk hinsichtlich der Sozialauswahl als Betrieb behandelt, ist von Seiten der Kammer im Rahmen der Prüfung der Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes hinsichtlich der Betriebsgröße gemäß § 23 KSchG auch der Bezirk zugrunde gelegt worden. Die erforderliche Betriebsgröße ist zwischen den Parteien unstreitig. Die Anwendbarkeit des Kündigungschutzgesetzes ist damit gegeben.

2.

Gem. § 1 Abs. 2 KSchG ist eine Kündigung u. a. dann sozial gerechtfertigt, wenn sie durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist, die der Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen. Betriebliche Erfordernisse für eine Kündigung können sich aus innerbetrieblichen Umständen (Unternehmerentscheidungen bzw. Rationalisierungsmaßnahmen, Umstellung oder Einschränkung der Produktion) oder durch außerbetriebliche Gründe (z. B. Auftragsmangel oder Umsatzrückgang) ergeben. Die betrieblichen Erfordernisse müssen „dringend“ sein und eine Kündigung im Interesse des Betriebs notwendig machen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn es dem Arbeitgeber nicht möglich ist, der betrieblichen Lage durch andere Maßnahmen auf technischem, organisatorischem oder wirtschaftlichem Gebiet als durch eine Kündigung zu entsprechen (BAG, 17.6.1999, 2 AZR 141/99, AP Nr. 101 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = EzA § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 102; BAG, 17.6.1999, 2 AZR 456/98, AP Nr. 103 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = EzA § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 103). Vorliegend kann dahinstehen, ob die von dem Beklagten behaupteten Umsatzzahlen und Personalkosten zutreffend sind und ob die unternehmerische Entscheidung getroffen wurde, die Verkaufsstelle Q. zu schließen.

3.

Jedenfalls wurde die Sozialauswahl nicht ordnungsgemäß durchgeführt.

a.

Die Sozialauswahl bezieht sich auf den Betrieb. Der Kreis der in die soziale Auswahl einzubeziehenden vergleichbaren Arbeitnehmer bestimmt sich in erster Linie nach arbeitsplatzbezogenen Merkmalen, also zunächst nach der ausgeübten Tätigkeit. An einer Vergleichbarkeit fehlt es, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht einseitig auf den anderen Arbeitsplatz um- oder versetzen kann. Vergleichbar sind Arbeitnehmer, die austauschbar sind, ohne dass es einer Änderungskündigung bedürfte. An der Vergleichbarkeit fehlt es, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht einseitig kraft Direktionsrecht auf einen anderen Arbeitsplatz um- oder versetzen kann (BAG, 18.10.2006, 2 AZR 676/05). Im Arbeitsvertrag der Klägerin ist eine konkrete Verkaufsstelle genannt, jedoch auch ausgeführt, dass die Firma berechtigt ist, die Arbeitnehmerin in einer anderen Verkaufsstelle einzusetzen. Laut Angaben des Beklagten wurden alle Mitarbeiter im Bezirk B. in die Sozialauswahl mit einbezogen (Anlage K 13, Bl. 53 f. d. A.).

b.

Hinsichtlich der Mitarbeiterin K. ist die Klägerin als stärker sozial schutzbedürftig anzusehen, so dass die Sozialauswahl insoweit fehlerhaft war. Die Sozialauswahl muss nicht perfekt sein, sondern nach dem Gesetzeswortlaut nur ausreichend. Dem Arbeitgeber steht insoweit ein Wertungsspielraum zu. Die Auswahlentscheidung muss jedoch vertretbar sein (BAG, 06.07.2006, NZA 07, 139). Dies war vorliegend nicht der Fall. Die Mitarbeiterin K. ist 34 Jahre alt, seit (…) 2007 bei dem Beklagten beschäftigt, hat keine Unterhaltspflichten und ist ledig. Die Klägerin hingegen ist am (…) geboren, d.h. im Zeitpunkt der Kündigung 52 Jahre alt, verheiratet und seit (…) 2003 bei dem Beklagten beschäftigt.

Der Einwand des Beklagten, die Sozialauswahl sei nicht auf Frau K. erstreckt worden, da diese nur 6 Stunden in der Woche arbeite, kann nicht durchgreifen. Ist eine Organisationsentscheidung getroffen, aufgrund derer für bestimmte Arbeiten Vollzeitkräfte vorgesehen sind, so kann diese freie Unternehmerentscheidung nur darauf überprüft werden, ob sie offenbar unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist. Liegt eine bindende Unternehmerentscheidung vor, sind bei der Kündigung einer Teilzeitkraft die Vollzeitkräfte nicht in die Sozialauswahl einzubeziehen. Will der Arbeitgeber jedoch in einem bestimmten Bereich lediglich die Zahl der insgesamt geleisteten Arbeitsstunden abbauen, ohne dass eine Organisationsentscheidung im o. g. Sinne vorliegt, sind sämtliche in diesem Bereich beschäftigte Arbeitnehmer ohne Rücksicht auf ihr Arbeitszeitvolumen in die Sozialauswahl einzubeziehen. Zu einer derartigen unternehmerischen Entscheidung ist nichts vorgetragen. Insoweit war auch Frau K. in die Sozialauswahl einzubeziehen und vorrangig vor der Klägerin zu kündigen. Damit wäre es zumindest möglich und ein milderes Mittel gewesen, der Klägerin an Stelle der gewählten Beendigungskündigung eine Änderungskündigung auszusprechen.

4.

Zudem fehlt es an einer ordnungsgemäßen Betriebsratsanhörung. Der Betriebsrat ist vor jeder Kündigung zu hören. Der Arbeitgeber hat ihm die Gründe für die Kündigung mitzuteilen (§ 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG). Eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung ist unwirksam (§ 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG). Nach dem Grundsatz der subjektiven Determinierung müssen dem Betriebsrat alle Gründe mitgeteilt werden, auf die der Arbeitgeber die Kündigung stützen will (BAG 11.7.1991, 2 AZR 119/91, AP Nr. 57 zu § 102 BetrVG 1972 = EzA § 102 BetrVG 1972 Nr. 81). Diese Kündigungsgründe müssen so detailliert dargelegt werden, dass sich der Betriebsrat ohne zusätzliche eigene Nachforschungen ein Bild über die Stichhaltigkeit machen und beurteilen kann, ob es sinnvoll ist, Bedenken zu äußern oder der beabsichtigten Kündigung zu widersprechen (BAG 21.6.2001, 2 AZR 30/00, EzA § 626 BGB Unkündbarkeit Nr. 7 = ZTR 2002, 45).

Die schriftliche Anhörung vom 16.12.2009 genügt nicht den Anforderungen des § 102 Abs. 1 BetrVG. Insbesondere ist in der schriftlichen Anhörung nur kurz angedeutet, dass die Klägerin im Rahmen der Sozialauswahl verdrängt wurde, ohne genau auf die Sozialauswahl (einbezogene Arbeitnehmer, Sozialkriterien) einzugehen. Auch die Ausführung des Beklagten zu dem Gespräch mit dem Betriebsrat am 16.12.2009, in dem alle anfallenden Fragen besprochen worden seien, ist in dieser Form zu pauschal. Es ist nicht ersichtlich, ob der Betriebsrat über den Mechanismus der Verdrängung und die Sozialauswahl ordnungsgemäß informiert wurden. Insbesondere bemängelt der Betriebsrat in seinem Widerspruchsschreiben, dass ihm keine ordnungsgemäße Auflistung der Mitarbeiterinnen vorgelegt wurde.

II.

Die Klägerin hat Anspruch auf Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsrechtsstreits gemäß § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG.

Sie hat eine ordentliche Kündigung erhalten. Der Betriebsrat hat dieser Kündigung fristund ordnungsgemäß im Sinne des § 102 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 BetrVG widersprochen. Schließlich hat die Klägerin nach dem Kündigungsschutzgesetz Klage auf Feststellung erhoben, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst wurde. Ein überwiegendes Interesse des Beklagten gemäß § 102 Abs. 5 S. 2 Ziffer 1 bis 3 BetrVG wurde nicht dargelegt und ist auch sonst nicht ersichtlich. Die Klägerin ist als Verkäuferin/Kassiererin weiter zu beschäftigen. (…)