Überstunden gelöscht – Was tun, wenn der Chef Mehrarbeit ignoriert?
Viele Arbeitnehmer leisten regelmäßig Überstunden – sei es freiwillig oder weil es die betriebliche Situation erfordert. Doch was, wenn diese Stunden am Monatsende einfach gestrichen werden? Ist das erlaubt? Müssen Überstunden bezahlt werden? Und wie können sich Arbeitnehmer wehren, wenn ihre Mehrarbeit ignoriert wird? In diesem Beitrag klären wir die wichtigsten arbeitsrechtlichen Aspekte rund um Überstunden und zeigen, welche Rechte Beschäftigte haben.
1. Wann sind Überstunden zulässig?
Grundsätzlich gilt: Niemand ist verpflichtet, Überstunden zu leisten, es sei denn, dies ist vertraglich, tarifvertraglich oder durch eine Betriebsvereinbarung geregelt. Arbeitgeber dürfen Überstunden also nicht einfach anordnen, wenn es dafür keine rechtliche Grundlage gibt.
Geregelt werden Überstunden in:
- Arbeitsverträgen (z. B. mit Klauseln zur Mehrarbeit oder Pauschalvergütung)
- Tarifverträgen (diese bestimmen oft, wann und wie Überstunden bezahlt oder ausgeglichen werden)
- Betriebsvereinbarungen (falls ein Betriebsrat existiert, können hier Regeln zur Arbeitszeit festgelegt sein)
Besonders relevant ist dabei die Abgrenzung zwischen Überstunden und Mehrarbeit:
- Überstunden sind Arbeitszeiten, die über die vertraglich vereinbarte Wochenarbeitszeit hinausgehen.
- Mehrarbeit bezeichnet Arbeitsstunden, die über die gesetzlich zulässige Höchstarbeitszeit hinausgehen (z. B. mehr als 10 Stunden pro Tag gemäß Arbeitszeitgesetz).
Das bedeutet: Nicht jede Überstunde ist automatisch Mehrarbeit, aber jede Mehrarbeit ist eine Überstunde.
2. Darf der Arbeitgeber Überstunden einfach streichen?
Die Praxis, Überstunden ohne Ausgleich zu streichen, ist nicht automatisch zulässig. Ob ein Arbeitgeber dies tun darf, hängt von den arbeitsvertraglichen oder betrieblichen Regelungen ab.
Folgende Fälle sind rechtlich möglich:
- Kappungsklauseln: Einige Verträge oder Betriebsvereinbarungen enthalten Regelungen, dass Überstunden ab einer bestimmten Anzahl gestrichen werden, wenn sie nicht rechtzeitig abgebaut wurden. Solche Klauseln sind nur in engen Grenzen wirksam, insbesondere wenn sie klar geregelt und zumutbar sind.
- Verfall durch Ausschlussfristen: Viele Arbeits- und Tarifverträge enthalten Fristen, innerhalb derer Überstunden geltend gemacht werden müssen (z. B. drei Monate). Danach verfallen die Ansprüche. Auch diese Klauseln können z.B. wegen eines Verstoßes gegen das Mindestlohngesetz unwirksam sein.
- „Pauschale Abgeltung“ im Arbeitsvertrag: Manche Verträge enthalten Klauseln wie „Mit dem Gehalt sind alle Überstunden abgegolten“. Solche Regelungen sind nur wirksam, wenn sie konkret angeben, welche Anzahl an Überstunden damit gemeint ist.
- Besondere Arbeitnehmergruppen: Es gibt jedoch Gruppen von Arbeitnehmern, die im Sinne von § 612 Abs. 1 BGB keine Vergütung für Überstunden erwarten dürfen. Dies sind vor allem Arbeitnehmer, die eine sehr hohe Vergütung erhalten oder eine leitende Position innehaben. Weitergehende Informationen hierzu finden Sie in unserem Beitrag Überstunden im Arbeitsverhältnis.
💡 Achtung: Eine generelle Klausel, dass alle Überstunden mit dem Gehalt abgegolten sind, ist rechtlich unwirksam, wenn nicht erkennbar ist, wie viele Überstunden konkret damit gemeint sind (BAG, Urteil vom 1. September 2010 – 5 AZR 517/09).
Falls der Arbeitsvertrag keine Regelungen zur Kappung oder Abgeltung enthält, dürfen Überstunden nicht einfach gestrichen werden.
3. Muss der Arbeitgeber Überstunden bezahlen?
Falls Überstunden angeordnet wurden oder betriebsbedingt notwendig waren, besteht ein Anspruch auf Bezahlung – vorausgesetzt, es gibt keine wirksame Pauschalvergütungsklausel oder Verfallsklausel.
Nach § 612 BGB gilt: Ist eine Vergütung für eine Mehrarbeit üblich oder zu erwarten, besteht ein Anspruch auf Bezahlung. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn:
✅ Der Arbeitnehmer regelmäßig Überstunden leistet und dies geduldet wird.
✅ Die Mehrarbeit notwendig war, um Arbeitsaufgaben zu erfüllen.
✅ Der Arbeitnehmer keine Wahl hatte, Überstunden zu vermeiden.
Falls keine Bezahlung erfolgt, kann stattdessen ein Freizeitausgleich gewährt werden – dies muss jedoch entweder im Arbeitsvertrag oder durch Absprache geregelt sein.
4. Wie können Arbeitnehmer ihre Überstunden durchsetzen?
Falls Überstunden gestrichen oder nicht bezahlt werden, sollten Arbeitnehmer aktiv werden:
1️⃣ Dokumentation führen: Notieren Sie Ihre Arbeitszeiten selbst (z. B. mit Excel, einer App oder schriftlich). Das erleichtert den Nachweis später.
2️⃣ Arbeitsvertrag prüfen: Gibt es eine Regelung zu Überstunden? Falls nein, können Sie Vergütung oder Ausgleich einfordern.
3️⃣ Gespräch mit dem Vorgesetzten suchen: Oft lassen sich Missverständnisse klären, wenn man frühzeitig das Gespräch sucht.
4️⃣ Betriebsrat einschalten: Falls es einen Betriebsrat gibt, kann dieser helfen, eine Klärung zu erreichen.
5️⃣ Rechtliche Schritte einleiten: Falls der Arbeitgeber sich weigert, Überstunden anzuerkennen oder zu vergüten, bleibt der Gang zum Arbeitsgericht. Wichtig: Ausschlussfristen beachten – oft müssen Überstunden innerhalb von drei Monaten geltend gemacht werden!
💡 Tipp: Falls Ihr Arbeitgeber die gesetzliche Pflicht zur Zeiterfassung missachtet (siehe EuGH-Urteil von 2019), kann das ein starkes Argument für Ihre Ansprüche sein.
5. EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung – Ihre Rechte
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat 2019 entschieden, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, ein verlässliches Zeiterfassungssystem einzuführen (Az.: C-55/18). Das bedeutet:
✅ Arbeitgeber müssen die tatsächlichen Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten erfassen.
✅ Ohne Zeiterfassung kann der Arbeitgeber nicht einfach behaupten, es gäbe keine Überstunden.
✅ Falls Ihr Arbeitgeber keine Zeiterfassung nutzt, kann das ein Hinweis darauf sein, dass er arbeitsrechtliche Pflichten verletzt.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat 2022 bestätigt, dass deutsche Unternehmen eine Pflicht zur Zeiterfassung haben (BAG, Beschluss vom 13. September 2022 – 1 ABR 22/21). Damit stehen Arbeitnehmer in einer stärkeren Position, wenn es um Überstunden geht.
Fazit: Lassen Sie sich Ihre Überstunden nicht einfach streichen!
✔ Überstunden müssen entweder vergütet oder durch Freizeit ausgeglichen werden, sofern sie nicht durch wirksame Regelungen verfallen.
✔ Der Arbeitgeber kann Überstunden nicht einfach „verschwinden lassen“, wenn keine klare Regelung existiert.
✔ Die Pflicht zur Zeiterfassung erleichtert Arbeitnehmern den Nachweis ihrer geleisteten Überstunden.
✔ Werden Überstunden gestrichen oder nicht bezahlt, sollten Arbeitnehmer sich wehren – durch Gespräch, Betriebsrat oder notfalls rechtliche Schritte.
💡 Haben Sie Probleme mit der Anerkennung von Überstunden oder andere arbeitsrechtliche Probleme? Wir helfen Ihnen, Ihre Ansprüche durchzusetzen. Vereinbaren Sie eine Beratung in unseren Kanzleien in Sulingen, Bremen, Osnabrück oder Online!
FAQs – Häufig gestellte Fragen zum Thema Überstunden
🔹 Kann mein Arbeitgeber meine Überstunden einfach streichen?
Nein, das ist nur zulässig, wenn eine vertragliche, tarifliche oder betriebliche Regelung dies ausdrücklich erlaubt und die Regelung wirksam ist.
🔹 Was kann ich tun, wenn mein Arbeitgeber meine Überstunden nicht bezahlt?
Sie sollten Ihre Arbeitszeiten dokumentieren, Ihren Arbeitsvertrag prüfen und das Gespräch mit Ihrem Arbeitgeber suchen. Falls keine Einigung erzielt wird, können Sie den Betriebsrat oder einen Anwalt einschalten.
🔹 Sind alle Überstunden automatisch mit dem Gehalt abgegolten?
Nein. Eine allgemeine Klausel im Arbeitsvertrag ist nur gültig, wenn sie eine klare Begrenzung der abgegoltenen Überstunden enthält. Andernfalls sind sie unwirksam.
🔹 Wie lange habe ich Zeit, meine Überstunden geltend zu machen?
Das hängt von Ihrem Arbeits- oder Tarifvertrag ab. Viele Verträge enthalten Ausschlussfristen von drei Monaten. Danach verfallen möglicherweise Ansprüche.
🔹 Muss mein Arbeitgeber Überstunden vergüten oder kann er auch Freizeitausgleich anordnen?
Das hängt von der vertraglichen oder tariflichen Regelung ab. Falls nichts vereinbart wurde, besteht in der Regel ein Anspruch auf Vergütung.
🔹 Was kann ich tun, wenn mein Arbeitgeber keine Zeiterfassung anbietet?
Seit dem EuGH-Urteil von 2019 ist der Arbeitgeber verpflichtet, ein objektives Zeiterfassungssystem einzuführen. Falls er das nicht tut, können Sie sich darauf berufen.
E-Mail: anwalt@ws-kanzlei.de
Rufen Sie an:
Sulingen: 04271 – 931555 | Bremen: 0421 – 3288220 | Osnabrück: 0541 – 93939049
Ihre Ansprechpartner

Björn Steveker
